Mein bester Freund

Ich lernte ihn kennen, als er in dieselbe Stadt zog, in der ich seit Beginn meines geisteswissenschaftlichen Studiums lebte. Er war groß, blass, sehr dünn und trug eine Brille. Bei unserem ersten Gespräch stellte er sich vor, Fabian. Wir verstanden uns auf Anhieb super und verbrachten so bald sehr viel Zeit miteinander. Obwohl ich ihn fast jeden Tag um mich hatte, erfuhr ich durch Zufall von seiner Homosexualität: Er nannte sich selbst in einem Chatroom ,,Lady Diva“. Nachdem sich schnell und unkompliziert der Sachverhalt geklärt hatte, nahm der Spitzname schnell seinen festen Platz in unserer Freundschaft ein: Er nannte Verabredungen ,,Lady-Dates“, kleidete sich gern in rosa Tüllröcke und lackierte seine Fingernägel schöner, als ich je gesehen hatte – mein 14jähriges Ich wurde neidisch.

Lady Divas Welt

Bald weihte er mich, nachdem wir zahlreiche Abende mit unseren gemeinsamen kitschigen Lieblingsserien verbracht hatten, in ein neues Hobby ein: Er erstellte auf Onlineforen mehrere Profile von sich, auf welchen er Teilen seines tatsächlichen Charakters fiktive Personen zuordnete, die er auf absurde und humoristische Art benannte und sich ausmalte. Zunächst hatte es für mich den Anschein, als sei seine Absicht, auf Datingwebsites interessant und möglichst auffällig aufzutreten – ein Lady-Date folgte auf das nächste. Mittlerweile wusste ich aber mehr über meinen Freund, kannte ihn und seine facettenreiche Persönlichkeit besser und so kam ich zu dem Schluss, dass dies sein persönliches Ausbrechen war. Ein Ausbrechen aus der Enge seiner Eltern, die ihn nie verstanden hatten, seines Bruders, der seine Art zu leben verachtete, und einer von Ängsten und Gewalt gegen sich selbst geprägten Kindheit. Seine verschiedenen Internet-Charaktere waren für ihn wie ein Rollenspiel, in dem er sein und leben konnte wie er wollte, mit wem er wollte, wann er wollte, ohne dass ihn jemand dafür verurteilte.

Die Masken ablegen

Homosexualität wird oft versteckt, auch in der heutigen Zeit, wie dieser Artikel beschreibt; es wird ein großes Drama und Geheimnis daraus gemacht, die Gesellschaft findet es immer noch nicht völlig akzeptabel, als homosexueller Mensch hat man immer noch das Gefühl, sich überall und jederzeit outen und erklären zu müssen, immer in der Angst, das Gegenüber könnte mit Ablehnung reagieren. Persönlich verstehe ich den Impuls, seine wahre Identität zu verheimlichen, vollkommen, vor allem weil es um etwas sehr Privates, Intimes geht, was eigentlich niemand anderen zu interessieren hätte. Es ist ein Trauerspiel, was die vermeintlich moderne Gesellschaft diesen Menschen auferlegt.

Fabians Verkleidungen, Maskierungen, im echten Leben oder virtuell, hatte ich immer unterhaltsam gefunden und mit ihm darüber gelacht; aber jetzt, Jahre später, sehe ich darin so viel mehr: die Freiheit, das Aufatmen, man selbst sein zu können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert